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Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time

Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time

Konnte Hideaki Anno nach über 20 Jahren seinen Frieden mit Evangelion finden?

Seit kurzem können Menschen außerhalb Japans das große Finale der Filmreihe Rebuild of Evangelion" sehen. Das Produktionsstudio schließt sich mit Amazon zusammen, um alle vier Filme im Streaming-Angebot „Prime Video" aufzunehmen und sie somit einem internationalen Publikum zugänglich zu machen. Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time ist der neueste Teil dieser Saga und es stellt den mittlerweile dritten Versuch des Regisseurs Hideaki Anno dar, sein Meisterwerk Neon Genesis Evangelion (1995-1996) zu einem passenden Abschluss zu bringen.

Diesen letzten Film zu veröffentlichen, muss für alle Beteiligten ein unvorstellbarer Kraftakt gewesen sein. 3.0+1.0 Thrice Upon a Time ist letztes Jahr in den japanischen Kinos gestartet, acht Jahre nach der Erstausstrahlung von Evangelion: 3.33 You Can (Not) Redo. Schauen wir uns die Filme einzeln an, lassen sich Parallelen zur schwierigen Entstehungsgeschichte der originalen 26 Anime-Episoden erkennen, die damals ebenfalls noch während der Fertigstellung umfangreich überarbeitet wurden.

Der erste Film (Evangelion: 1.11 You Are (Not) Alone) ist eine gebündelte, vielerorts rasant gekürzte Zusammenfassung der ersten sechs Folgen von Neon Genesis Evangelion. Evangelion: 2.22 You Can (Not) Advance) folgt dem vorgegeben Szenario zunächst, führt uns letztlich jedoch eine völlig neue Möglichkeit vor Augen. Teil 3 ist in vielerlei Hinsicht ein Problemfall, vor allem aufgrund der langen Zeitspanne, die zwischen dieser Episode und der neuesten Veröffentlichung liegt. Die Menschen mussten neun Jahre lang darauf warten, ehe Anno seine Figuren verabschiedete.

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Der Abschluss der Saga nimmt sich deshalb einige Minuten, um den Zuschauern einen sehr flüchtigen Rückblick zu bieten. Evangelion 3.0+1.0 Thrice Upon a Time setzt direkt an die Ereignisse von 3.33 You Can (Not) Redo an und stellt Shinji vor die monumentale Aufgabe, neue Hoffnung zu schöpfen. Asuka, Rei und Shinji finden Unterschlupf in einer Kleinstadt, wo sie so etwas wie einen Alltag ohne Krieg kennenlernen. In diesen Szenen findet viel Charakterentwicklung statt, ohne dass viel gezeigt wird. Freundliche Gesichter, eine strahlende Perspektive und Zuversicht bestimmen in der ersten Hälfte des Films das Geschehen.

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Zunächst konzentrieren wir uns auf Rei, die in dieser idyllischen Umgebung im Gegensatz zu den beiden anderen Eva-Piloten förmlich aufblüht. Asuka verhält sich auf dem ersten Blick wie früher, allerdings lassen die subtilen Veränderungen tief blicken. Ihr Verhalten ist viel strenger als damals, denn sie wird nicht mehr von einem aggressiven Wetteifer angetrieben. Sie agiert kalt und distanziert, was ihren Taten in diesem friedlichen Augenblick umso mehr Gewicht verleiht. Mit Shinji passiert in der ersten Stunde eigentlich nichts, denn er ist mit sich selbst beschäftigt.

Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time

Was mir an diesen Szenen so gut gefällt, ist, dass der Film Shinji die Zeit gibt, sich an seine traumatische Situation zu gewöhnen. Am Ende dieses Kapitels stolpert er nicht plötzlich über den genialen Einfall, der ihn wieder auf den richtigen Pfad lenkt und ihm neue Kraft verleiht, denn so funktioniert das Leben nun mal nicht. Mit sich selbst ins Reine zu kommen und zu akzeptieren, das erfordert eine Menge Zeit und harte Arbeit - es gibt keine Abkürzung. Das mag manch einem trocken und öde vorkommen, aber ich finde diese Erkenntnis auf seltsame Art und Weise beruhigend. Und dieses Gefühl habe ich bislang nicht mit Evangelion verbunden.

Der letzte große Akt hält viele Offenbarungen für uns bereit und diesmal gelingt es Studio Khara sogar, einige der komplizierten Themen und Konzepte, die in den letzten beiden Evangelion-Enden zu einem unleserlichen Chaos verschmolzen sind, deutlich mehr Gestalt zu verleihen. Die große Entscheidungsschlacht wird von jeder Menge Exposition begleitet, in der neue und alte Themen aufgegriffen und teilweise neu bewertet werden. Vor allem die Beziehung zwischen Shinji und seinem Vater nimmt im Finale des Films einen großen Stellenwert ein, doch auch andere Figuren werden näher beleuchtet und würdig verabschiedet.

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Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time
Die vier Evangelion-Filme haben eine Gesamtlänge von fast acht Stunden. Plant euch dafür die nötige Zeit ein.

Die vielen Jahre Entwicklungszeit sind nicht spurlos an dieser Produktion vorbeigezogen. Die Kämpfe von 3.0+1.0 Thrice Upon a Time nehmen einen anderen Blickwinkel ein, da es nicht mehr primär um Duelle zwischen großen Robotern und möglichst simpel geformten Kaiju-Monstern geht. Stattdessen wehren die Evangelion Dutzende oder gar Hunderte Feinde gleichzeitig ab und ein nicht unwesentlicher Teil des Films begleiten wir vom Cockpit eines Weltraumkreuzers aus. Die zunehmende Masse an Feinden verbildlicht die Anstrengungen, die die letzten Verteidiger der Menschheit aufbringen müssen, um die erzwungene Neuschöpfung doch noch aufzuhalten.

Die hohe Feinddichte führt im Bild dazu, dass Gegner-Designs reduziert und endlos kopiert werden. Zudem beschränken sich die Animationen auf Kameraperspektiven, die es den Zuschauern erschweren, dem Bewegungsfluss detailliert folgen zu können. Im letzten Teil kommen darüber hinaus CG-Effekte zum Einsatz, die leider nicht sehr kohärent abgestimmt wirken. Gerade im Vergleich zu den anderen Filmen von Rebuild of Evangelion empfand ich die Bildsprache von 3.0+1.0 Thrice Upon a Time trotz großartiger Symbolik als deutlich unattraktiver. 3.33 und 2.22 weisen viele eindrucksvolle Vistas mit schockierenden Bildern auf, die Menschen seit Jahren begleiten. Damit kann der Abschluss dieser Reihe leider nicht mithalten.

Ich habe dennoch den allergrößten Respekt davor, dass Studio Khara dieses epische Unterfangen nach all der Zeit tatsächlich fertigstellen konnte. Neon Genesis Evangelion: The End of Evangelion konnte mich persönlich zwar stärker packen, doch Rebuild of Evangelion überschreibt vergangene Iterationen der Evangelion-Reihe nicht - es komplementiert sie lediglich. Dass Evangelion: 3.0.+1.0 Thrice Upon a Time letztlich zu einer ausdrucksstarken, freundlichen Antwort kommt, mit der sich viele Menschen zufriedengeben werden, ist erstaunlich. Allein die Tatsache, dass Anno seinen Charakteren diesmal einen Ausweg geschenkt hat, lässt mich hoffen, dass auch er nach all der Zeit einen Weg gefunden hat, um mit sich selbst im Reinen zu bleiben.

09 Gamereactor Deutschland
9 / 10
+
dichtes Geflecht aus Charakterentwicklung und interpretationsoffener Rahmenhandlung, es ersetzt das vorangegangene Material nicht, inspirierende und wachrüttelnde Botschaften.
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durchwachsene Animationsqualität, umfangreiches Vorwissen benötigt.
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